
Heute ist der erste Morgen, an dem ich vor neun Uhr aufgewacht bin. Wir sind in Mexico-Stadt und die Sonne kämpft sich so langsam durch den Dunst. Es ist Silvester und alle anderen im Haus schlafen noch. Endlich ein wenig Zeit, die ersten drei Tage Revue passieren zu lassen.
Ich war schon ewig nicht mehr so aufgekratzt vor einem Flug. Das letzte Mal dürfte vor 16 Jahren gewesen sein, als ich nach dem Abi mit einer Freundin erstmals nach L.A. geflogen bin. Fünf Wochen lang durch Kalifornien cruisen, Konzerte, exzessive Gin & Tonic Nächte und der Ozean. Der Anflug auf Mexico-Stadt macht ähnlich sprachlos, wie die Sicht über die Stadt der Lichter. Ein nicht enden wollendes Häusermeer, das seine Ausmaße am erst richtig offenbart, wenn der Pilot beschließt, kurz nochmal die Richtung zu wechseln und das Flugzeug gefühlt seitlich in der Luft liegt. Gut dass ich nichts gegessen hatten (Mexikaner haben wenig Verständnis für Vegetarismus – ein kurzes Nein, nichts vegetarisches – whatever).
Niemand weiß genau, wie viele Menschen in D.F. leben. 23 Millionen, vielleicht auch 25 Millionen. Eigentlich spielt es auch keine Rolle. Welchen Unterschied macht es auch. So oder so ist es nach Tokio die zweitgrößte Stadt der Welt und die Hauptverkehrsstraßen sind verstopft. Wir sind nicht unglücklich darüber, dass wir in den Ferien über Silvester hier sind, wenn viele Hauptstadtbewohner das Weite suchen und Familien in der Provinz besuchen oder Strandurlaub machen. Die Stadt ist uns auch ohne sie geschäftig genug, die U-Bahn angenehm voll. Schwer vorstellbar, dass hier sonst noch zwei, drei Menschen mehr durch die Straßen wuseln. Noch weniger unglücklich sind wir darüber, dass wir die Woche bei einem alten Freund von Jonas wohnen. Ein Fakt, der sich schon kurz nach unserer Ankunft auszahlt.
Nach dem kurzen Flug aus San Antonio, an dessen Flughafen es praktisch keine Sicherheitskontrolle gegeben hat – einmal mehr wird einem klar, wo die Prioritäten der USA liegen – besorgten wir uns in DF erstmal ein safes Taxi (Autorizado). 20 Minuten später standen wir im Wohnzimmer des Freundes im Stadtteil Tacubaya. Ein Hinterhofkomplex mit gelben Häusern, exotischen Pflanzen, vielen namenlose Katzen, dazu ein Haus voller Kreativer und Lebenskünstler und eine Dachterrasse. Addiert man den Sonnenschein und die 25 Grad, könnte man Ende Dezember an schlimmeren Orten sein.
Der Freund, der bereits seit elf Jahren hier lebt, entpuppt sich als ein guter Gastgeber, stellte er uns doch kaum, dass wir die Türschwelle passiert hatten, zuallererst ein paar kalte Biere hin. Wir schmissen die Taschen in eine Ecke und begaben uns auf die Dachterrasse. Life could be worse.
Da ein leerer Magen in Kombination mit Bier schnell hungrig macht, schlappten wir ziemlich bald in der frühabendlichen Dunkelheit vor die Tür. Essstände, vor denen jeder ignorante Ratgeber und Menschen, die noch nie hier waren, warnen, gibt es hier an jeder Straße. Und das Essen ist meist gut und billig, wie wir bei unserem ersten Kontakt mit mexikanischem Street Food feststellen sollten. Hatten wir die Hürde in Form einer sechsspurigen Straße mit einem Verkehr, der so abschreckend, wie ein reißender Strom ist, überquert, saßen sie da: eine runde mexikanische Mutti samt zauberhafter Tochter. Während die Muddi sich ums Brutzeln von Empanadas und Co. kümmert, versorg die Kleine, nicht älter als elf, die Gäste mit Servietten, sammelt den Müll ein und kassiert sie ab. Drückt ihr jemand einen großen Schein in die Hand, rennt sie zum Kiosk nebenan und wechselt ihn. Ihre dunklen Augen sind kritisch, ernst und zugleich neugierig und ziehen einen in ihren Bann. Während das Essen günstig ist, scheint hier kaum jemand kleine Scheine zu besitzen.
Und wir? Wir saugen die Atmosphäre ein, sitzen auf leeren Getränkekisten, essen, schauen der Imbissfrau beim Frittieren zu, während hunderte Autos an uns vorbei brausen. Oder wie ein Mitbewohner des Freundes sagt: „It’s good to be alive“.